Lebenserfahrung nutzen und Sinn stiften. Interview mit Renate, 69
„Zeit hat für mich eine neue Bedeutung bekommen.“
Bei strahlendem Sonnenschein treffe ich Renate bei einem Bäcker im Hamburger Nordosten. Zwischen uns prangt der Schriftzug „Pause“ an der Wand und symbolisiert unser Innehalten und den folgenden Austausch. Renate ist ein wunderbar stiller und nachdenklicher Mensch und neugierig hole ich meine Fragen hervor.

Andreas: Renate, du bist 69 Jahre alt und hast in Hamburg in einem großen und sozial orientierten Unternehmen in leitender Funktion gearbeitet. Und das stolze 40 Jahre lang. Ist dir die Vorstellung, deinen Job irgendwann nicht mehr zu machen schwergefallen? Dein Job war ja sicherlich auch Leidenschaft.
Renate: Die Vorstellung, nicht mehr zu arbeiten, ist mir lange schwergefallen, weil ich mit meiner Arbeit und dem Unternehmen sehr verwurzelt war.
Ich hatte immer gute Möglichkeiten, mich im Unternehmen zu entwickeln. Deshalb hatte ich immer eine positive Einstellung zu meinem Arbeitgeber. Die letzten zwei Jahre waren allerdings sehr herausfordernd. Es war die Hochphase der Corona-Pandemie, in der vieles im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Lockdown Durcheinander geraten ist und neu aufgebaut werden musste. Vor allem Menschen mit Behinderung waren von der Pandemie und den damit verbundenen Folgen stark betroffen. Die Sorge, dass Menschen in unseren Einrichtungen sterben, war sehr groß und für alle belastend.
Und auch die Umstellung von Präsenztreffen auf Homeoffice und digitale Treffen hat viel verändert. Wir sind gefühlt von einer Videokonferenz in die nächste gesprungen. Mit dem Ende der Pandemie endete auch meine Berufstätigkeit. Zu dem Zeitpunkt war ich froh, einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen.
Andreas: Ist es dir dadurch leichter fallen, zu gehen?
Renate: Corona hat mir den Berufsausstieg leichter gemacht, ja. Viele Kolleginnen und Kollegen haben sich in der Phase nicht nur psychisch, sondern auch physisch erschöpft gefühlt.
Andreas: Das heißt, du hast gerade zum Ende hin nochmal eine hohe Belastung im Job gehabt. Fiel es dir dann nicht umso schwerer plötzlich von diesen 110 Prozent auf null runter zu bremsen?
Renate: Ich habe die letzten 15 Jahre in einem hohen Belastungsbereich gearbeitet. Ich habe eine ganze Zeit gebraucht, das Loch, das durch den Wegfall der Arbeit entstanden ist, wieder zu füllen
Andreas: Vermutlich hat der Corona-Virus dir gar nicht die Möglichkeit gegeben, dich vorher besinnlich hinzusetzen und zu reflektieren: die Veränderung kommt, was mache ich denn dann? Sondern du warst bis zum Schluss voll dabei. Vor der Pandemie war das sicherlich noch zu weit weg, um sich schon Gedanken zu machen. Der Einschnitt war dann drastisch?
Renate: Ja. Absolut.
Andreas: Bist du am ersten Ruhestands-Tag aufgewacht und hast dir gesagt: das Leben ist schön? Konntest du die ersten Wochen genießen? Nach dem Motto: ich habe ja jetzt Urlaub?
Renate: Ja, das konnte ich. Wir sind gleich 3 Wochen verreist. Aber danach war klar, für mich hat ein neuer Lebensabschnitt begonnen. Es hat Zeit gebraucht, mich damit zu arrangieren und mich neu zu orientieren. Ich habe viel über das Thema Bedeutungsverlust nachgedacht und überlegt, was ich diesem Gefühl entgegensetzen kann.
Andreas: Gehst du von deiner Selbstwahrnehmung aus?
Renate: Ja. Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch über seine Arbeit Bedeutung erfährt und für mich war es immer wichtig, im Ruhestand eine Beschäftigung zu finden, die mich ausfüllt und mir etwas gibt, mir etwas bedeutet.
Andreas: Jetzt sagst du nach drei Jahren hast du dich arrangiert. Bist jetzt okay mit der neuen Situation?
Renate: Ich habe meinen Arbeitsalltag die erste Zeit vor allem vermisst, weil ich eine ausgefüllte Woche und eine interessante Arbeit hatte.
Ich habe mich in der ersten Zeit auch nie als Rentnerin gefühlt und mich manchmal gewundert, was machst du eigentlich zuhause? Eigentlich bist du doch noch voll fit und traust dir noch vieles zu. Sich damit zu arrangieren, nicht mehr zur Gruppe der Berufstätigen zu gehören, hat gedauert, aber jetzt ist es okay und ich möchte nicht mehr zurück.
Andreas: Hast du denn noch mal eine Aufgabe gefunden? Hast du irgendwann gesagt: ich mache mich jetzt mal selber zu meinem eigenen Projekt, ich suche mir jetzt noch mal aktiv etwas?
Renate: Ich bin immer regelmäßig zur Marktbörse des Aktivoli Landesnetzwerk gegangen. Das AKTIVOLI e.V. ist eine Organisation, die sich für das ehrenamtliche Engagement einsetzt und die in diesem Bereich tätigen Institutionen und Ehrenamtlichen vernetzt. Auf der Marktbörse habe ich die dann Gruppe „seniorTrainerIn Hamburg“ gefunden, für die ich mich heute mit viel Freude ehrenamtlich engagiere. seniorTrainerin Hamburg ist seit 2002 Teil der bundesweit tätigen Einrichtung engagierter Seniorinnen und Senioren, die mit ihrem Erfahrungswissen, ihrer Kompetenz und Arbeitskraft im freiwilligen Engagement gemeinnützige Projekte initiieren und unterstützen.

Andreas: Was tust du sonst noch?
Renate: Ein großer Wunsch von mir war, wieder kreativ tätig zu sein. Das ist im Berufsalltag leider auf der Strecke geblieben. Ich habe endlich Zeit für meinen Garten, fürs Fotografieren und nähen. Und Zeit, um Neues zu lernen: Um alte Familienbriefe lesen zu können, lerne ich Sütterlin.
Das fand ich mit am schwierigsten bei der Umstellung meines Lebens: meine Energie zu fokussieren auf das, was ich gerne machen möchte. Ich hatte immer einen durchgehend verplanten Tagesablauf, um den ich mich nicht selbst kümmern musste. Die Termine standen im Kalender und ich habe sie abgearbeitet. Und jetzt musste ich mich um alles selbst kümmern und für mich selbst Sorge tragen.
Andreas: Um sich selbst als Projekt am Laufen zu halten.
Renate: Das eine ist, tatsächlich zu erkennen, was ich möchte, aber das andere ist, was muss ich dafür tun, um dort auch hinzukommen?
Andreas: Hattest du beim Eintritt in den Ruhestand genug Ansprechpartner, mit denen du reden konntest und die dich unterstützt haben?
Renate: Meinen Mann, der fast zeitgleich in Rente gegangen ist. Zum Glück habe ich einen großen Freundes- und Bekanntenkreis, Ich konnte mich mit Freundinnen austauschen und durfte dann auch mal jammern.
Andreas: Und wie steht es mittlerweile um das Selbstwertgefühl? Haderst du noch damit? Oder was muss man tun, um wieder zufrieden und in Einklang mit sich zu sein? Bist du in Einklang mit dir?
Renate: Ich habe 40 Jahre lang gearbeitet und bin stolz auf das, was ich geleistet habe
Ich habe meine neue Rolle angenommen und genieße es, über meine Zeit frei zu verfügen. Ich möchte meine Zeit, die ich habe, für mich nutzen und mit den Menschen verbringen, die mir wichtig sind. Zeit hat für mich eine neue Bedeutung bekommen.
Andreas: Hast du für dich einen Rhythmus gefunden, so eine regelmäßige Alltags-Struktur?
Renate: Ja, ich gehe drei- bis viermal in der Woche zum Sport. Durch das Ehrenamt habe ich zwei bis drei Termine in der Woche und dann kommen noch verschiedene Verabredungen mit Freundinnen und Freunden dazu. Damit bin ich sehr zufrieden.
Und ich kann es inzwischen sehr genießen, einfach nur Zeit zu haben, ohne auf die Uhr gucken zu müssen, weil der nächste Termin ansteht. Dinge können dann auch mal länger dauern oder auf den nächsten Tag verschoben werden.
Andreas: Zu welchem Zeitpunkt sollte denn jemand anfangen, sich mit seinem Berufsausstieg zu beschäftigen?
Renate: Ich denke, spätestens ein halbes Jahr vorher wäre gut
Andreas: Ist nicht ein halbes Jahr fast schon zu knapp?
Renate: Es hängt davon ab, ob es schon erste Ideen oder Vorstellungen für eine Beschäftigung nach dem Berufsleben gibt.
Mir hat geholfen, dass ich schon erste Ideen, wenn auch noch keinen Plan hatte, was ich angehen möchte. Als ich dann zu Hause war, habe ich mir überlegt, was ich aus meinen Ideen machen möchte und was ich wie konkret angehen werde.
Mir war immer wichtig, eine ehrenamtliche Beschäftigung zu finden, die ich als sinnstiftend erlebe und die an meine Lebenserfahrung anknüpft.
Andreas: Ich danke dir für das Gespräch!
Das AKTIVOLI-Landesnetzwerk macht sich stark für bürgerschaftliches Engagement in Hamburg. Wir wollen es noch sichtbarer machen, aufwerten, dafür werben und es vernetzen.
Wir unterstützen Freiwillige, Freiwilligenorganisationen und –projekte, engagierte Firmen sowie Schulen und Hochschulen. Gemeinsam mit Verwaltung, Politik und Wirtschaft gestalten wir die Rahmenbedingungen für freiwilliges Engagement.
Die Sütterlinschrift, meist einfach Sütterlin genannt, ist eine im Jahr 1911 im Auftrag des preußischen Kultur- und Schulministeriums von Ludwig Sütterlin entwickelte Ausgangsschrift für das Erlernen von Schreibschrift in der Schule.
Die deutsche Sütterlinschrift ist eine spezielle Form der deutschen Kurrentschrift für Schreibanfänger.
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Achtsam in den Ruhestand
im Austausch mit anderen Boomern, machen wir uns gemeinsam auf eine Reise, die zu deinem ganz persönlichen Plan für den kommenden Lebensabschnitt führt.

Andreas Peters, Jahrgang 1965, waschechter Hamburger, Vater, vierfacher Unternehmensgründer mit dem Schwerpunkt IT aber auch New Work. Zweifacher Buchautor, Fotograf und auch Maler mit Ausstellungen. Ehrenamtliche Tätigkeit für die Handelskammer Hamburg in Schulen. Mehrfacher Weltreisender.
(…) wobei die Welt ja stets größer wird, je länger man sie bereist. Meine Jobs gegen Neugierde und Erfahrung einzutauschen, habe ich aber niemals bereut.